Endlich eigene Räume: Nach zwei Jahren Tangounterricht und Tanzabenden an wechselnden Orten hatte Joachim Knusts (Josch) Traum von einem eigenen Studio 1993 konkrete Formen angenommen. Er wollte an einem festen Ort unterrichten und ein Ambiente für regelmäßige Milongas schaffen.
In Hannovers traditionellem Arbeiterstadtteil Linden fand der damals 38- Jährige, was er suchte: ein ausgedientes Fabrikgelände, das engagierte Vereine und junge Unternehmer in den achtziger und neunziger Jahren nach und nach zu einem Kulturzentrum und in einen ökologischen Gewerbehof umfunktionierten. Als Josch den Tipp von einem Tangofreund erhalten hatte, war der Umnutzungsprozess allerdings schon so gut wie abgeschlossen. Lediglich ein einziger Raum war noch zu haben – verdreckt, heruntergekommen und völlig vermüllt.
Josch ließ sich davon nicht schrecken. Er hatte eine Vision von dem, was er aus diesem Loch machen wollte und könnte, wurde Mitglied im Ökologischen Gewerbehof, unterschrieb den Mietvertrag für diesen Waschraum im Sozialtrakt des einstigen Fabrikgebäudes und begann, dem Tango in Hannover eine Heimat zu schaffen. Der hohe Raum mit seinen fast ebenso hohen Originalfenstern, dem alten Steinfußboden und den an die Vergangenheit erinnernden Waschbecken an einer Wandseite bildeten ein ebenso bizarres wie atmosphärisches Ambiente. Der gebürtige Berliner taufte es "Tango Milieu".
Anfangs prägten Improvisation und Einfachheit die Ausstattung und Nutzung des Tango Milieus. Toiletten fehlten, Gasflaschen mit Brennern dienten als Heizung, das Mobiliar bestand aus Klappstühlen und Tischen. Neben den ersten Kursen gab es zunächst nur sonntags eine Milonga, bei der sich Hannovers wachsende Tangogemeinde amüsieren konnte. Josch, der inzwischen seinen Job als EDV-Techniker aufgegeben hatte, um sich ganz dem Tango zu widmen, baute das Milieu Schritt für Schritt aus und um. Und auch die Tanzabende wurden mehr: Auch seine bereits seit 1991 andernorts abgehaltene Mittwoch-Milonga zog in die neuen, eigenen Räume um, bald schon ergänzt um eine weitere an jedem Freitagabend. Bis heute bestehen diese drei wöchentlichen Tanzabende, unabhängig von Jahreszeit, Ferien- oder Feiertagen. Wer Tango-Milieu denkt, soll gleichzeitig diese drei festen Milonga-Termine im Kopf haben, daran ist Josch sehr gelegen: "Meine Gäste sollen sich auf die Tanzabende verlassen können."
Die wissen das zu schätzen. Bis zu 60 Tänzerinnen und Tänzer besuchen regelmäßig die Milongas im Tango Milieu. Die meisten von ihnen kommen aus Hannover und Umgebung, doch Gäste aus Braunschweig, Hameln, Hildesheim oder Minden finden sich ebenfalls darunter. Zu Messezeiten und besonderen Veranstaltungen kommen zudem auch Gäste aus anderen Regionen der Republik in Joschs Studio, und mancher von ihnen ist gar aus dem Ausland: Das Tango Milieu hat über Stadt- und Landesgrenzen hinaus einen guten Ruf.
Je mehr sich die einstige Industriebrache in ein Kultur- und Gewerbezentrum wandelte, desto mehr veränderte auch das Tango Milieu sein Aussehen. Oder besser: Josch und seine zahlreichen Helfer gaben ihm eine neue Gestalt, vor allem mit dem kompletten Umbau im Sommer 1996. Es erhielt einen neun mal 20 Meter messenden Saal mit Spiegelwand, Eichenparkett auf Schwingboden und aufwändiger Lüftungsanlage. An der einen kurzen Seite des Saals bietet eine Bühne mit Flügel und Musikanlage Platz und Gelegenheit für Live-Auftritte, auf der gegenüberliegenden Seite können die Gäste von kleinen Tischen und Stuhlgruppen aus das Treiben auf der Tanzfläche beobachten. Zwei beeindruckende Glaslüster verleihen dem Ganzen einen würdevollen Glanz: "Die haben mir meine Tango-Freunde zur Eröffnung des Saals geschenkt", sagt Josch. Die Freude darüber ist seiner Stimme noch heute anzuhören.
Der vormalige Tanzraum beherbergt seitdem die Bar mit gemauertem Tresen, hellen Holztischen und allerlei Zeugnissen von Tangokultur und –kult an den Wänden. Im Sommer laden Bänke und Tische auch im Außenbereich zum Sitzen und Klönen ein. Ein begrünter kleiner Weg ermöglicht den Zugang zum Tango Milieu von der Straße aus, der anfangs erforderliche und für neue Tango-Milieu-Besucher teils verwirrende Weg über das Fabrikgelände entfällt. Egal, ob es regnet, stürmt oder eine laue Sommernacht zum Tanz einlädt: Das Tango Milieu wirkt stets wie das warme, weiche Herz inmitten dieser alten Gemäuer. Alt und Neu gehen im Tango Milieu samt dem umliegenden Ambiente einvernehmlich Hand in Hand.
Diese wohlige Atmosphäre prägt auch die Stimmung in der Bar. Das Thekenteam – seit sechs Jahren unter der Leitung von Barkeeper Frank Suchy –, schenkt nicht nur argentinischen Wein und frisch gezapftes Bier aus, sondern mischt gern auch Exotisches für seine Gäste. Die Mauerbögen geben den Barbesuchern den Blick, vorbei an roten Samtvorhängen, auf das Geschehen im Tanzsaal frei. Dort mischt sich der weiche Farbton des Holzparketts mit dem sanften Gelb der Beleuchtung und dem Schein der Kerzen auf den Tischen. Ein besonderes Markenzeichen des Saals ist zudem, was man nicht sieht: Zigarettenrauch. Zum Wohle der Tänzer ist der 180 Quadratmeter große Raum rauchfreie Zone. "Heute sind rauchfreie Zonen auch anderswo längst üblich. Aber als ich das eingeführt habe, war das noch etwas ganz Neues, fast eine kleine Sensation.", sagt Josch.
Die abendliche Milonga ist, wie das Ambiente selbst, vom harmonischen Miteinander geprägt. Sichtbar wird dies unter anderem an der Disziplin der Tanzpaare: Obwohl das Platzangebot raumgreifende Figuren und Schrittfolgen zuließe, bewegen sie sich – wie in jedem guten Unterricht gelernt – stets diszipliniert in Tanzrichtung. Das Musikangebot ist ganz nach europäischem Geschmack, ohne Cortina, jeweils eine Tanda Tango im Wechsel mit Vals oder Milonga. Das Verhältnis von Traditionellem zu Modernem und durchaus Ausgefallenem hängt nicht zuletzt vom jeweiligen DJ ab. Neben Josch und seiner langjährigen Mitarbeiterin Martina Meyer legen auch Ulrich Büchler und Michael Wördemann Scheiben auf.
Die wachsende Zahl Tangointeressierter und die Vielzahl unterschiedlicher Veranstaltungen sowie die steigende Nachfrage nach Raumvermietung haben im Jahr 2000 einen weiteren Ausbau erforderlich gemacht. Seitdem gibt es einen zweiten Unterrichtsraum, ebenfalls mit Parkett und Spiegelwand, einen überdachten, rund sieben Meter hohen Innenhof und einige kleine Mehrzweckräume. Personell hat Josch ebenfalls aufgestockt: Martina Meyer unterrichtet heute einige Kurse zusammen mit Stefani Gevers und die einstige Ballett-Profitänzerin Katharina Warncke assistiert Josch in einigen Unterrichtsstunden. Insgesamt bieten das Tango Milieu nach dem bewährten Unterrichtssystem "Tango vom Rio de la Plata" acht Kurse auf unterschiedlichen Niveaus sowie drei Trainingsgruppen für alle diejenigen, die auch danach noch weiter lernen wollen, an. Zahlreiche themenbezogene Wochenendworkshops runden das Angebot ab. "Einige meiner Schüler kommen bereits seit fünf Jahren zu mir in den Unterricht. Es sind ganz besonders diese langjährigen Beziehungen, zu Schülern ebenso wie zu Stammgästen, die zur guten Stimmung im Tango Milieu wesentlich beitragen."
Mit zwei Bands, Showeinlagen und einer Ballnacht bis zum Morgengrauen hat das Tango Milieu Ende März seinen zehnten Geburtstag gefeiert. Zunächst eroberten das Dresdner Duo "Tango Amoratado" und die Berliner Formation "Quinteto Angel" sich mit einem konzertanten Teil die Herzen des Publikums im rappelvollen Milieu. Bald schon hielt es die Gäste kaum noch auf den Stühlen: Tanzen war angesagt, der Rest der Nacht gehörte den Tangeros. Nur einmal noch ließen sie sich unterbrechen: als Josch und seine drei Lehrkräfte Martina Meyer, Stefani Gevers und Katharina Warncke zu Tango, Vals und Milonga ihr tänzerisches Können zeigten. Donnernder Applaus, für die Vortänzer ebenso wie für die Musiker. Die Bands ließen sich von der guten Stimmung inspirieren und verabschiedeten sich mit einer gemeinsamen Session von ihren Zuhörern.
Solveig Vogel
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